[taz, die tageszeitung.]
 
Ökolumne

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 Der stille Milliardensprung der Weltbevölkerung

Irgendwann in diesem heißen Sommer 1999 ist es passiert. Irgendwo, vermutlich in China, in Indien oder im südlichen Afrika. Es kann aber genauso gut im Kreiskrankenhaus von Castrop-Rauxel geschehen sein. Keiner hat es bemerkt, weil die wirklich wichtigen Dinge auf Erden verborgen bleiben. Ein Kind quetscht seinen Kopf in die Welt, die Schwester schneidet die Nabelschnur durch, die Mutter sinkt erschöpft ins Kissen. Schon sind sechs Milliarden voll. Kein Blumenstrauß, keine Gratispackung Pampers, kein Händeschütteln vom UN-Generalsekretär. Nicht einmal ein Moped als Geschenk, wie es damals der erste italienische Gastarbeiter in Westdeutschland bekam. Weil niemand die Familie kennt. Der sechsmilliardste Erdenbürger kam incognito auf die Welt.

Nicht nur der Ort, auch der Zeitpunkt blieb ungewiss. Die Computer des "UN-Population Fund" ermittelten den 16. Juni als Tag X, US-Statistiker legten die Geburt präzise auf den 19. Juli um 2.34 Uhr. Die BBC machte den 9. August als Sechs-Milliarden-Tag aus, das wäre also Montag.

Die Tonlage in allen Berichten zum Ereignis hat sich merklich geändert. Die Metaphern "Menschenbombe", "Lawine" und "Explosion" werden seltener gebraucht, die Sirene heult auf niedrigerer Frequenz. Mit einem Schuss Optimismus lässt sich heute sogar sagen, dass der Höhepunkt des Bevölkerungswachstums überschritten ist. Bis zum Jahr 1800 brauchte die Menschheit zur ersten Milliarde, bis 1930 zur zweiten, dann folgten die Etappen 1960, 1975, 1987 und 1999. Die siebte Milliarde soll nach UN-Schätzungen erst 2013 voll werden, die achte 2033. Die Intervalle werden wieder länger.

Das allein ändert noch nichts an der Dramatik, die darin besteht, dass die Welt auch mit einem langsameren Wachstum bis Mitte des nächsten Jahrhunderts - dann gehen unsere Kinder gerade in Rente - auf 12 oder 14 Milliarden Köpfe anwachsen könnte. Heute kommt alle zweieinhalb Sekunden ein Mensch zur Welt, das macht jeden Monat ein neues Berlin. Armut und Elend sind der Motor dieses Wachstums geblieben.

Aber es gibt eine Reihe guter Nachrichten. Die Zahl der Kinder pro Frau ist von 6 im Jahre 1960 auf heute 2,7 zurückgegangen. Niemals zuvor sank die Geburtenrate so tief, so schnell und so konstant überall auf der Welt. In den Entwicklungsländern verhüten immerhin mehr als die Hälfte aller Paare, Tendenz steigend. In den Sechzigern waren es nur zehn Prozent. Und ausgerechnet die katholischen Hochburgen Italien und Spanien trotzen allen päpstlichen Enzykliken und sind heute die Länder mit der niedrigsten Geburtenrate (1,1 Geburten pro Frau bzw. 1,3).

Inzwischen liegen die Demographen kräftig im Clinch miteinander. Die Computer werden neu gefüttert, in luftige Höhen abgedriftete Extrapolationen erfahren einen leichten Knick. Und es melden sich erste Stimmen, die bereits ein Auströpfeln des Bevölkerungswachstums sehen. Der Präsident des Washington Population Institutes, Werner Fornos, hält dies allerdings für "elitären Schwachsinn" und verweist zu Recht auf die reale Situation: 3 Milliarden junge Menschen erreichen jetzt das reproduzierfähige Alter. Selbst wenn sie nur 2,1 Kinder pro Paar bekommen, wird die Menschheit weiter wachsen.

Ein Blick ins Weltdorf ist noch immer der eindrucksvollste Weg, um sich ein genaueres Bild zu machen. Stellen wir uns also die Welt repräsentativ verkleinert als ein Dorf von 100 Einwohnern vor. Es wären 57 Asiaten, 21 Europäer, 15 Amerikaner, 8 Afrikaner, 1 (eigentlich nur ein halber) Australier. 52 Frauen und 48 Männer. 37 wären jünger als 15 Jahre alt. 6 Einwohner würden zwei Drittel der Reichtümer des Dorfes besitzen. 80 würden in schlechten Häusern oder in Hütten leben. 15 hätten Hungersymptome, weitere 35 wären schlecht ernährt. Die Hälfte könnte nicht lesen. Es gäbe nur 1 Computer und 1 Menschen mit Hochschulabschluss im Dorf.

Von 10 Kindern, die in den nächsten sechs Jahren auf die Welt kämen, würden 3 vor dem fünften Geburtstag sterben. Jede zweite Schwangerschaft wäre ungewollt, jedes vierte Kind unerwünscht.

Eines fehlt noch: Die wenigen, denen es gut geht im Weltdorf, leben in ständiger Panik, dass die Habenichtse zu viele werden. Dennoch verweigern sie ihren Beitrag: Von den 5,7 Milliarden Mark, die von den Geberländern auf dem Kairoer Bevölkerungsgipfel für Familienplanung und "reproduktive Gesundheit" versprochen wurden, haben sie tatsächlich nur 2 Milliarden bezahlt.

Ein tolles Dorf!

Manfred Kriener

taz Nr. 5906 vom 7.8.1999 Seite 8 141 Zeilen
Kommentar Manfred Kriener